Kultur

Das Chelsea Hotel in New York

““¦der Höhepunkt des Surrealen“


(Quelle: Stefanie Moritz)
(Quelle: Mario Graß)
GDN - Nach 65 Jahren ist die Geschichte des legendären Chelsea Hotels in New York zu einem Ende gekommen. Die sagenumwobene Künstlerabsteige wird derzeit modernisiert und wird im Anschluss nicht mehr dieselbe sein.
Als die kanadische Songwriterin Joni Mitchell einst hinter den ehrwürdigen Mauern des legendären New Yorker Chelsea Hotels erwachte, ließ sie sich von den ersten blendenden Sonnenstrahlen des Tages zu ihrem Song “Chelsea Morning“ inspirieren. “Woke up, it was a chelsea morning, and the first thing that I saw was the sun through yellow courtains and a rainbow on the wall.“
Für jemanden der sich für die amerikanische Kunst- und Kulturszene der sechziger Jahre begeistert, ist das Gebäude ein geradezu heiliger Ort.
Das zwölfstöckigen, 1884 im viktorianisch-gotischen Stil erbaute, rote Backsteingebäude lockte mit seinen großen Fenstern, die es ermöglichten weitestgehend auf künstliches Licht in den Zimmern zu verzichten, viele Künstler an, die ihre Hotelzimmer kurzerhand zum Atelier umfunktioniert haben.
Bis zur Errichtung des Flatiron-Buildings im Jahre 1902, das nur etwa 700 Meter entfernt an derselben Straße liegt, hatte das Chelsea den Titel als “höchstes Gebäude New Yorks“ inne. Zunächst als Appartementhaus für Wohlhabende konzipiert, wurde es bald in ein Hotel umgewandelt, dessen Geschicke seit 1946 von drei aus Ungarn stammenden Geschäftspartnern, David Bard, Joseph Gross und Julius Krauss, gelenkt wurden, in deren Familienbesitz das Hotel 65 Jahre lang verblieb.
Seinen legendären Ruf hat sich das Hotel insbesondere in den sechziger Jahren durch die New Yorker Undergroundkunstszene rund um Andy Warhol erworben, die sich von dem Ambiente des Hotels zu allerlei Aktivitäten beflügeln ließ. 1966 setzte Warhol mit seinem Experimentalfilm “The Chelsea Girls“ der Künstlerabsteige und ihren Bewohnern, die in dem mehr als dreistündigen Film vorgestellt werden, ein Denkmal. Ein Film, der die abgründigen Seiten des modernen Großstadtlebens - mit exzessivem Drogengebrauch und sexuellen Perversionen, Psychoterror und Paranoia, Gewalt und Narzissmus - offenlegte.
Eine der zahlreichen Tafeln am Eingangsportal
Quelle: Mario Graß
Messingschilder, rechts und links des Eingangsportals, durch das zahlreiche prominente Menschen das Hotel betreten haben - wobei nicht jeder von ihnen das Haus lebend wieder verlassen hat - erinnern an Berühmtheiten aus der illustren Gästeliste. Unter dem rot-weiß gestreiften Baldachin traten diese zum Eingang, öffneten die schlichte, gläserne Tür und betraten das Foyer, an dessen Wänden dicht gedrängt Ölgemälde ehemaliger Bewohner hingen.
Die Hotel-Lobby
Quelle: Stefanie Moritz
Diese künstlerische Atmosphäre und seinen entsprechenden Ruf hat das Chelsea Hotel Stanley Bard, der die Leitung 1957 von seinem Vater übernahm und ein Herz für Künstler und Gestrandete hatte, zu verdanken. Seine Gäste ließ er offene Rechnungen wahlweise mit Geld oder Bildern bezahlen - manchmal auch mit vagen Versprechungen. Die Liste geschichtsträchtiger Namen und Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem Hotel Chelsea stehen, ist lang. Mark Twain und Thomas Wolfe, der hier 1940 sein Werk “You Can“™t Go Home Again“ schrieb, in dem er mit Scharfblick die veränderten Verhältnisse in Deutschland analysierte, lebten hier und die Poeten Allen Ginsberg und Gregory Corso wählten den Ort in den 1950er Jahren für ihren intellektuellen Austausch.
Die Schriftsteller und wichtigsten Vertreter der Beat-Generation Jack Kerouac und William Burroughs verfassten hier ihre Hauptwerke. Borroughs Roman “Naked Lunch“ entstand in diesem Haus und Kerrouac erreichte den Höhepunkt seiner Karriere, als er im Hotel seinen Roman “On the Road“ verfasste, den er innerhalb von nur drei Wochen auf einer langen, aus Zeichenpapier zusammengeklebten Papierrolle tippte, um seinen Schreibfluss nicht durch lästige Papierwechsel unterbrechen zu müssen.
Bob Dylan verfasste seinen Song “Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ in Zimmer 211, Arthur C. Clarke entwickelte das Drehbuch zu “2001 - A Space Odyssey“, Mark Rothko nutze den alten Speisesaal als Atelier und Leonard Cohen erinnert sich in seinem Song “Chelsea Hotel No.2“ an einen Blowjob von Janis Joplin, den er auf seinem ungemachten Hotelbett empfing.
Humphrey Bogart verbrachte in den Hotelkissen seine Hochzeitsnacht mit Lauren Bacall und Arthur Miller lieferte sich mit Marilyn Monroe einen handfesten Streit in der Lobby. Er verharrte nach der Trennung mit Hollywoods berühmtester Blondine gleich fünf Jahre hier und hat mehrere seiner Dramen auf seinem Zimmer verfasst. In einem Essay mit dem Titel “The Chelsea Effect“ schrieb er: “Dieses Hotel passt nicht zu Amerika. Es gibt keine Staubsauger, keine Regeln und keine Scham “¦ es ist der Höhepunkt des Surrealen.“
White Horse Tavern
Quelle: Mario Graß
Auch Dylan Thomas lebte hier, wobei er zu den tragischen Figuren gehört, die das Hotel auf einer Trage liegend verlassen mussten. “Das muss ein Rekord sein“, verkündete er stolz, als er im November 1953 nach 18 Whiskeys in der nahegelegenen White Horse Tavern die Rezeption erreichte, bevor er dort zusammenbrach und wenige Tage später im Krankenhaus verstarb.
In jüngerer Vergangenheit verbrachte der Songwriter Ryan Adams mehrere Wochen im Hotel und komponierte in Erinnerung an diese Zeit den Song “Hotel Chelsea Night“. Der Musiker Rufus Wainwright lebte ein Jahr im Chelsea, um am Material für sein zweites Album zu arbeiten. “Ich habe dort Anekdoten gesammelt und oft mit Alexander McQueen gefeiert. Ich spürte, dass es für das Album, das ich schrieb, keine bessere Adresse gab.“
Er reiht sich ein in die lange Liste von Musikern, die sich von der Atmosphäre des Chelsea Hotels angezogen fühlten. Neben der eingangs erwähnten Joni Mitchell, deren Song elf Jahre später Hillary und Bill Clinton dazu anregte, ihre gemeinsame Tochter auf den Namen Chelsea taufen zu lassen, verbrachten Musikgrößen wie John Lennon, Keith Richards, Pink Floyd und Jimi Hendrix, der von einer älteren Dame für einen Hotelpagen gehalten wurde und bereitwillig die Koffer auf das entsprechende Zimmer schleppte, hier manche - wohl nicht immer ganz ruhige - Nacht.
Der 2002 verstorbene Punkmusiker Dee Dee Ramone bewohnte, nachdem er die Band “The Ramones“ verlassen hatte, das Zimmer mit der Nummer 100 und verfasste dort die Novelle “Chelsea Horror Hotel“ und der österreichische Musiker Falco drehte 1984 vor Ort ein Video zu dem Titel “No answer“, in dem er telefonierend auf einem der Hotelbetten liegt, während sich eine dunkelhaarige Schönheit, lediglich mit einem weißen String bekleidet, verführerisch neben ihm räkelt. Ihren String legte, knapp 10 Jahre später, Madonna ab und tauschte ihn gegen schwarze Lackstiefel, um sich in Zimmer 822 für ihren Erotikbildband “Sex“ ablichten zu lassen.
Seit jeher heißt es, dass sich Geister in der Lobby sowie in den langen Gängen und manchen Zimmern des Hotels aufhalten. Der 1979 verstorbene Punkmusiker Sid Vicious und seine zuvor ermordete Freundin Nancy Spungen sollen bereits mehrfach gesichtet worden sein und gelegentlich im Fahrstuhl ahnungslose Hotelgäste erschrecken. Auch im Zimmer Nr. 100, wo sich der tragische Höhepunkt der stürmischen Beziehung des selbstzerstörerischen Paares abspielte, wurden sie angeblich bereits mehrfach erblickt.
Mit dem Klingeln des Telefons an der Hotelrezeption begann am späten Vormittag des 12. Oktobers 1978 die Tragödie. Ein Angestellter nahm den Anruf - der nachweislich von außerhalb des Hotels kam - entgegen, woraufhin eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung erklärte: “Es gibt Schwierigkeiten in Zimmer Nr. 100“. Ein Page wurde geschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Noch bevor dieser das Zimmer erreichen konnte, läutete erneut das Telefon in der Empfangshalle. Dieses Mal kam der Anruf aus jenem Zimmer Nr. 100 und eine weitere männliche Stimme stammelte: “Jemand ist krank “¦ brauchen Hilfe “¦“.
Inzwischen hatte der Page das Zimmer erreicht und nach Betreten des Raumes schaurige Entdeckungen machen müssen. Das große Bett war blutgetränkt und im Badezimmer fand er den spärlich bekleideten, blutüberströmten Körper einer platinblonden, jungen Frau. Die eiligst herbeigerufenen Sanitäter konnten nur noch ihren Tod feststellen. Die Polizei, die kurz darauf den Tatort untersuchte, entdeckte im Zimmer diverse Drogen, sowie ein bluttriefendes Klappmesser, in dessen Griff ein Jaguar geschnitzt war.
Das Opfer war Nancy Spungen, die das Zimmer mit Sid Vicious, dem Bassisten der Punkband “The Sex Pistols“, geteilt hatte. Den Musiker fand man rasch in unmittelbarer Nähe des Zimmers auf dem Hotelflur, wo er weinend und offenbar verwirrt auf und ab ging. Sein Gesicht wies Spuren einer heftigen Schlägerei auf und er stammelte: “Ich hab´ sie umgebracht “¦ Ich kann nicht ohne sie leben “¦ Sie ist auf das Messer gefallen “¦“ Vicious stand offensichtlich unter Drogen und leistete einigen Widerstand, als die Polizei ihn verhaften wollte. Schließlich gelang es, den Musiker zu überwältigen, ihm Handschellen anzulegen und ihn abzuführen.
Gegen Zahlung einer Kaution, die seine Plattenfirma Virgin Records für ihn stellte, wurde Sid Vicious im Februar 1979 bis zum geplanten Gerichtstermin auf freien Fuß gesetzt. Er bezog noch am selben Tag erneut das Zimmer Nr. 100 im Chelsea Hotel und lud zu einer Feier anlässlich seiner Freilassung ein, während derer er sich eine Überdosis Heroin injizierte und in dem gleichen Zimmer verstarb, wie zuvor seine Freundin Nancy. Wer der ominöse erste Anrufer am Morgen des 12. Oktobers 1978 war, konnte indes nie ermittelt werden.
65 Jahre lang wurde im Chelsea Hotel gemalt, geschrieben, komponiert, gefeiert, gestritten, gevögelt, gekokst und gesoffen. Im vergangenen Jahr ist der einstige Besitzer Stanley Bard, der das Hotel zuvor für 250 Millionen Dollar verkauft hatte, verstorben. Derzeit wird das Chelsea grundsaniert und renoviert. Es heißt, dass an Ende dieser Arbeiten lediglich die Fassade erhalten bleiben soll. Ein langjähriger Angestellter fasst die bewegte Vergangenheit des Hauses zusammen: “Das Schöne am Chelsea war, dass es die Menschen einfach sein ließ, egal, wie schräg sie drauf waren. Solange sie anderen nichts zuleide taten.“

weitere Informationen: https://blog.mariograss.de/chelseahotel-stormedelarverie/

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